16.12.2022
Ernährung und Landwirtschaft

Als eine Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine brachte das Jahr 2022 in vielen Ländern eine Ernährungskrise mit sich. In anderen verschlechterte sich die bereits schwierige Versorgungslage weiter. Das stellt die betroffenen Länder, aber auch die internationale Staatengemeinschaft und Politik vor große Herausforderungen. Wie sich Agrar- und Ernährungssysteme widerstandsfähig und nachhaltig transformieren lassen, war Thema einer Digitalkonferenz am 14. Dezember mit Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Forschung.

Im Gespräch mit Verbandsvizepräsident Matthias Machnig stellte Swantje Nillson, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, dar, dass man von der Verwirklichung des grundlegenden Menschenrechts auf angemessene Nahrung weit entfernt sei – wobei angemessen ausreichend und gesund heiße und nicht nur bezogen auf die Kalorienmenge zu verstehen sei. Auch in diesem Jahr sei man weit entfernt von einer Trendumkehr. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe die bereits bestehende prekäre Ernährungssituation in vielen Ländern der Welt nochmals massiv verschärft. Hunger werde gezielt als Waffe eingesetzt, um damit auch die Destabilisierung der Ukraine zu befördern und die Weltgesellschaft zu spalten. Der Hunger sei schon vorher das große Problem der Weltgemeinschaft gewesen, aber hier werde wieder neu mit der Volatilität der Ernährungssysteme gespielt. Hinzu käme, dass sich die Folgen der Klimakrise, von Dürren und Überschwemmungen immer stärker bemerkbar gemacht und die Situation weiter verschärft hätten, gerade in den Ländern des globalen Südens. Der Verlust der Biodiversität und von fruchtbaren, gesunden Böden sei ein großes Problem. Die Produktion von Nahrungsmitteln in vielen Ländern der Erde sei nicht mehr gesichert, auch mittel- und langfristig nicht.

Nillson sprach von einer multiplen Krise und sogar einer Permakrise, denn diese Krisen hätten eine Wechselbeziehung zueinander und bedingten sich zum Teil gegenseitig. Der russische Angriffskrieg habe zudem einseitige Abhängigkeiten offenbart und Preise für Betriebsstoffe wie Dünger und Treibstoffe steigen lassen und somit Nahrungsmittel verteuert. Auch mit humanitärer Hilfe habe die Bundesregierung versucht, diese Krise kurzfristig abzufedern. Mittelfristig und langfristig gelte es, das Recht auf Nahrung und die Agenda 2030 beizubehalten, wie auch im Koalitionsvertrag vereinbart. Das Recht auf Nahrungsmittel müsse in den Mittelpunkt gestellt werden. Außerdem müsse die Abhängigkeit von den Weltmärkten reduziert werden. Dabei wolle das Ministerium unterstützen. Denn Länder, die weniger abhängig von den Weltmärkten seien, könnten in dieser multiplen Krise besser bestehen.

Dirk Meyer, Abteilungsleiter im Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), nannte die Zahl von 828 Millionen hungernden Menschen weltweit. Dies sei eine Dimension, die nicht erst durch den russischen Angriffskrieg wieder nach oben gegangen sei, sondern die lange Zeit positive Trendumkehr habe sich schon vor einigen Jahren gedreht.

Der Kampf gegen den Hunger habe viele Rückschläge erlebt, so Meyer. Eine Dekade der multiplen Krisen, die kumulierten und miteinander interagierten stelle ein neues Phänomen dar, das neue politische Antworten verlange. Es sei bekannt, dass Corona sehr viele Schattenkrisen ausgelöst habe, die in der Kumulation mit Missernten, mit Klimawandelfolgen auch zu erheblichen Produktionseinbußen etwa auf dem afrikanischen Kontinent geführt hätten.

Meyer nahm auch Europa in die Verantwortung. Denn auch die europäischen Konsum- und Produktionsmuster führten zu Verwerfungen in der Welternährungssituation. Beispielhaft nannte er Soja aus Lateinamerika, das in hohem Maße für die Tierfuttermittelproduktion in Europa gebraucht wird. Damit würde der Klimawandel angeheizt werden, der wiederum zu neuen Einbrüchen führe.

Nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine sei das Gebot der Stunde die Krisenbewältigung gewesen, weil man gesehen habe, dass auf die steigende Zahl von Hungernden ein extremes Bedrohungsszenario aufgesetzt habe. Der Abteilungsleiter verwies auf die gemeinsam vom BMEL, Auswärtigen Amt und BMZ aufgebaute Global Alliance for Food Security. Deutschland habe eine führende Rolle in der Krisenbekämpfung eingenommen. Neben der UN Task Force sei die Allianz die einzige Mechanik, die derzeit in Länderprogramme gehe, um in den am stärksten vulnerablen Ländern zur Krisenbewältigung beizutragen.

Allen Beteiligten sei deutlich geworden, dass nach der Krisenbewältigung der Einstieg in die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme gelingen müsse. Ebenso wie Nillson plädierte Meyer dafür, die Abhängigkeitsstrukturen zu reduzieren. Resiliente Sorten müssten skaliert und in regionalen Märkten und Produktionsstrukturen zu resilienten Kreisläufen aufgebaut werden.

In der anschließenden Diskussion kamen zudem mit Dr. Christine Chemnitz, Agora Agrar, Hubertus Paetow, Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft e.V., Dr. Bettina Rudloff, Stiftung Politik und Wissenschaft, und Prof. Dr. Stephan von Cramon-Taubadel, Universität Göttingen, ausgewiesene Expertinnen und Experten aus Forschung und Wissenschaft zu Wort.