Harald Christ, Schatzmeister des Wirtschaftsforums der SPD e.V., fordert in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft.

Deutschland brauche eine Agenda 2030, die aufzeige, wir wir unseren Wohlstand auch in Zeiten der Digitalisierung langfristig sichern können, so Christ.

„Der Schlüssel ist lebenslange Qualifikation“, betont Christ in seinem Gastbeitrag. Menschen, die einfache, maschinell zu ersetzende Tätigkeiten ausführen, seien oft schlecht ausgebildet. „Die Idee einer Arbeits- und Qualifikationsversicherung statt der Verwaltung der Arbeitslosigkeit muss schrittweise umgesetzt werden.“

 

Nachfolgend der Gastbeitrag von Harald Christ für die Wirtschaftswoche:

„SPD-Wirtschaftsflügel plädiert für ‚Agenda 2030′“

„Die Bildung der Bundesregierung hat viel zu lange gedauert – und dann kam nach der Vereidigung von Kanzlerin und Ministern auch schon die Osterpause. Nun ist seit der Bundestagswahl bereits mehr als ein halbes Jahr vergangen. Deshalb muss die Regierung die

vertane Zeit aufholen und möglichst schnell Ergebnisse liefern. Deutschland braucht mittelfristig eine Agenda 2030, die aufzeigt, wie wir unseren Wohlstand auch in Zeiten der Digitalisierung langfristig sichern können. Die Entwicklung einer solchen Agenda braucht Zeit. Für die Bundesregierung sollte das aber keine Entschuldigung sein. Denn auch kurzfristig gibt es in Deutschland mehr als genug zu tun – vor allem in den folgenden vier Bereichen. Erstens müssen wir aus dem nur mit Mühe und nur vorerst abgewendeten Handelskrieg mit den USA die richtigen Konsequenzen ziehen. Damit eine weltweite Rezession nicht nur noch eine Frage der Zeit ist, brauchen wir Maßnahmen zur Stabilisierung des offenen Handelsaustausches weltweit – und ein echtes Handelsabkommen zwischen der EU und den USA. Ein gutes Vorbild dafür ist das multilaterale Abkommen Ceta zwischen der EU und Kanada.

Wir Europäer müssen uns bei den Verhandlungen nicht klein machen. Der europäische Binnenmarkt hat die größte Wirtschaftskraft. Das kann selbst Donald Trump nicht ignorieren. Zweitens beginnt Anfang des nächsten Jahres bereits der Wahlkampf für die Europawahlen im Frühjahr. Noch in diesem Jahr wird in Hessen und Bayern gewählt. Das Zeitfenster, um Europa mit mutigen Reform­ schritten zu stärken, ist deshalb nur wenige Monate groß. Was nicht bis Herbst gemeinsam mit Frankreich auf den Weggebracht ist, hat kaum noch Chancen auf Realisierung.

Wir müssen die EU krisenfest machen. Der französische Präsident hat konkrete Vorschläge vorgelegt, etwa, einen europäischen Finanzminister zu ernennen und einen Euro­ Haushalt zu schaffen. Die deutsche Antwort war bislang zurückweisend. Alternativvorschläge aus Berlin? Leider Fehlanzeige!

Die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Marktwirtschaft hängt jedoch von einer Stärkung der europäischen Zusammenarbeit und einer besser koordinierten Wirtschafts- und Währungspolitik ab. Wichtig ist, dass die EU-Mittel mehr für Investitionen in die Zukunft – vor allem in den Bereichen Digitales und Energie – als für Subventionen für die Vergangenheit eingesetzt werden. Die Vision ist ein ökonomischer Schengen-Raum, in dem alle Branchen in einem vollendeten Binnenmarkt arbeiten, die Regulierung vereinheitlicht und die Bürokratie reduziert wird. Wir müssen uns dabei endlich auch so schwierigen Themen wie einer Unternehmenssteuerreform auf europäischer Ebene widmen.

Drittens dürfen wir uns von unserer guten wirtschaftlichen Lage nicht blenden lassen. Zwar ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland stabil, die Steuereinnahmen sprudeln, die Beschäftigung erreicht Rekordhöhen. Trotzdem gibt es bedenkliche Entwicklungen: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, das Armutsrisiko und die Ungleichheit haben inzwischen unerträgliche Ausmaße erreicht. Auch die Bildungs­ und Aufstiegschancen sind höchst ungleich.

Dieser Entwicklung müssen wir mit einer klugen und weitsichtigen Wirtschaftspolitik begegnen. Wir brauchen eine moderne soziale Marktwirtschaft, die inklusiv ist: Die persönliche und berufliche Entwicklung eines Menschen darf weder vom Geldbeutel noch von der Herkunft abhängen. Das inklusive Wachstum baut darauf auf, dass die Erträge des Aufschwungs bei möglichst allen Menschen ankommen, sei es durch gute Löhne oder Vollbeschäftigung. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat vor Kurzem berechnet, dass unsere Wirtschaftsleistung bei einer gerechteren Verteilung um rund 50 Milliarden Euro höher ausfallen könnte. Ökonomen gehen bereits seit Langem davon aus, dass soziale Gerechtigkeit auch eine unverzichtbare und wichtige wirtschaftliche Produktivkraft ist. Schließlich steigern Qualifikation, Motivation und Flexibilität durch soziale Sicherheit die Arbeitsproduktivität erheblich. Zugleich sichert eine breite Kaufkraft die Nachfrage. In diesem Zusammenhang sollte auch weniger über Vermögensbesteuerung als über Vermögensbildung in breiten Schichten nachgedacht werden. Wer sich anstrengt, muss darauf bauen können, dass der Staat an seiner Seite ist – das wäre ein gutes Zukunftsmotto.

Viertens brauchen wir mehr als 70 Jahre nach Ludwig Erhards “Wohlstand für Alle“ eine neue Grundsatzdebatte. Die soziale Marktwirtschaft 4.0 ist der Bezugspunkt.

Durch die neuen Herausforderungen der Digitalisierung drohen massive soziale Eruptionen. Zumindest dann, wenn es nicht gelingt, neue Jobs in den neuen digitalen Bereichen zu schaffen, während zugleich Tausende Arbeitsplätze durch Automatisierung und autonome Steuerung wegfallen.

Der Schlüssel ist deshalb lebenslange Qualifikation. Menschen, die einfache, maschinell zu substituierende Tätigkeiten ausführen, sind oft schlecht ausgebildet. Die Idee einer Arbeits- und Qualifikationsversicherung statt der Verwaltung der Arbeitslosigkeit muss schrittweise umgesetzt werden. Das im Wahlkampf von der SPD vorgeschlagene Arbeitslosengeld Q (für Qualifikation) sollte dringend aufgelegt werden. Einlebens­ langes Bafög für alle, das die Weiterqualifikation bis ins höhere Alter umfasst, wäre ein ähnlich epochaler Reformschritt.

Ludwig Erhard würde heute wohl sagen: Qualifikation für alle ist die Grundlage für den Wohlstand für alle.“