18.01.2023
Gesprächskreis Sicherheit

Die sicherheitspolitische Zeitenwende stellt Politik und Industrie vor enorme Herausforderungen. Die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen für eine adäquate Ausstattung der Bundeswehr und für das Erreichen der Bündnisfähigkeit Deutschlands waren Themen einer Digitalkonferenz des Gesprächskreises Sicherheit mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft sowie Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Die Diskussion am 17. Januar moderierte Matthias Machnig.

Der Verbandsvizepräsident mahnte eine offene Diskussion darüber an, was der 24. Februar 2022 für die deutsche Bundeswehr, ihre Ausrüstung und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands bedeute. Für Dr. Pia Fuhrhop, Wissenschaftlerin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik, bezeichnet Zeitenwende verteidigungspolitisch einen Epochenbruch und die Notwendigkeit, sich gegen Russland verteidigen zu können. Deutschland müsse sich für eine langfristige Perspektive wappnen. „Wir sind wohl beraten, die Zeitenwende nicht nur auf die Landes- und Bündnisverteidigung zu beschränken“, so Pia Fuhrhop. Es sei gut möglich. dass es künftig wieder die Notwendigkeit für internationales Krisenmanagement gebe. Sie machte weiterhin deutlich, dass man sich in einer Welt befinde, die heute viel stärker vom politischen Konflikt zwischen USA und China geprägt sei, und in diesem Konflikt müsse Europa sich positionieren. Hier spiele die Industrie eine wesentliche Rolle. Die Frage, wer hier technologisch führend sei, betreffe sowohl zivile als auch militärische Technik bzw. Technik, die militärisch nutzbar gemacht werde.

Auf die Frage, ob nicht erst einmal sichergestellt werden müsse, dass die Bundeswehr ihren Auftrag überhaupt erfüllen könne, antwortete die Wissenschaftlerin, mittlerweile sei deutlich geworden, dass eine gemäß ihrem Auftrag sinnvoll ausgestattete Bundeswehr eine Notwendigkeit für die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und die Bündnispartner ist. Dies heiße aber noch lange nicht, dass jede Ausgabe in jeder Höhe und in jede Technik sinnvoll sei. Vielmehr bedürfe es einer Debatte darüber, in welche Fähigkeiten investiert werden solle. Mit Blick auf das Sondervermögen von 100 Mrd. Euro verwies sie darauf, dass die Bundesregierung sich in einer Zwickmühle befinde, mit begrenzten finanziellen Mitteln beides herzustellen: möglichst schnell eine kaltstartfähige Bundeswehr, die Landesverteidigung leisten kann, als auch Investitionen in Zukunfts-technologien, die kommen werden und die darüber bestimmen werden, wie Streitkräfte künftig miteinander Krieg führen. Welche Rolle Deutschland hier spielen wolle, müsse noch geklärt werden.

100 Mrd. Euro nicht ausreichend
Matthias Machnig fragte weiterhin, was seit der Ankündigung des Sondervermögens auf den Weg gebracht worden sei. Auf die Reaktion der Industrie ging Dr. Hans Christoph Atzpodien ein, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV). Die Mitgliedsunternehmen hätten mit großem Engagement innerhalb kurzer Zeit viele Vorschläge für eine möglichst schnelle Gefechtsbereitschaft der Bundeswehr gemacht. Allerdings konnte in den Wochen danach fast nichts realisiert werden, weil es noch keinen wirksamen Bundeshaushalt gegeben habe. Diese Situation habe man im Februar völlig unterschätzt. Heute sei man wieder in den Status der Mangelverwaltung zurückgefallen, trotz des grundgesetzlich verankerten Sondervermögens Bundeswehr. Die 100 Mrd. Euro speisten sich aus einer Pipeline unerfüllter Beschaffungswünsche, die sich in den Vorjahren aufgestaut hätten. Zusätzlichen Druck auf das Sondervermögen habe es durch Teuerung und Zinsen gegeben. Deshalb steht für Atzpodien fest: „Wir müssen diesen Schritt gehen zu dem vom Bundeskanzler mehrfach angekündigten zwei Prozent des BIP. Die müssen wir für die Verteidigung ausgeben. Die 100 Mrd. Euro allein sind nicht genug.“

Was die Beschaffung der Bundeswehr angeht, machte der Verbandsvertreter deutlich, dass die Industrie Planbarkeit benötige, um Kapazitäten aufbauen zu können. Zudem habe man sich in Deutschland über die Jahre in sehr komplexe Anforderungen an militärisches Gerät gesteigert. Das Beschaffungswesen müsse aber nicht selbst bis zur letzten Schraube alles spezifizieren, wenn ein neues Programm aufgelegt werde, sondern sollte der Industrie die Chance geben, ihre Lösungsvorschläge anzubieten – orientiert an einer funktionalen Definition dessen, was gebraucht wird. Zudem lasse das Beschaffungsrecht viele Ausnahmen zur Beschleunigung zu.

Standardisierung und Konsolidierung der Industrie
Die Frage, ob Europa eine koordinierte industriepolitische Strategie benötige, beantwortete Dr. Michael Schöllhorn, Chief Executive Officer Airbus Defence and Space, mit „Ja“. Bei der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie handele es sich nicht um eine allein markt- und wettbewerbsgetriebene Industrie, sondern um eine Industrie, die an den staatlichen Kunden ausgerichtet sein müsse. Schöllhorn forderte eine langfristige Strategie mit Blick auf Technologien und Fähigkeiten. Diese habe man in Deutschland nicht. Wolle man die Außen- und Sicherheitspolitik mit einer robusten Fähigkeit und Zugriffsmöglichkeit untermauern, gehöre die industrielle Dimension dazu. Die benötigte Industriepolitik müsse immer auch Technologie- und Strategiepolitik sein. „Diese Industriepolitik muss zumindest bei großen komplexen Systemen europäisch sein oder so europäisch wie möglich sein.“ Sonst werde es an Effizienz fehlen. Aber das erfordere auch die Bereitschaft, industriepolitisch denken und handeln zu wollen. Hier habe Deutschland noch Nachholbedarf, so der CEO. Mit Blick auf Europa mahnte er eine standardisierte Lösung an, etwa als Plattform. Bei gewissen Schlüsselthemen werde oder sollte es aus seiner Sicht mittel- und langfristig zu einer industriellen Konsolidierung kommen. Andernfalls werde es schwierig, die Potenz in der erforderlichen Skalierung zu halten.

Befragt nach den konkreten Problemen, welche die Beschaffungspolitik bei den Unternehmen auslöst, nannte Dr. Stephanie Willmann, Country Director Rolls Royce, das Stichwort „Puma“. Bei der benötigten Stückzahl habe es immer wieder Veränderungen gegeben. Für Unternehmen sei es aber essenziell, sich frühzeitig auf Anforderungen einstellen zu können. Schließlich müsse entsprechend Personal eingestellt und Material bestellt werden. Dies ließe sich nicht ohne weiteres vorauseilend erfüllen. Die Zeitenwende, so Willmanns Eindruck, müsse auch im Kopf stattfinden. Sie betreffe viele Ministerien und nachgeordnete Behörden und noch nicht überall sei die Bedeutung der Zäsur angekommen. Dabei bedürfe es der Konsistenz und einer langfristigen Strategie für Technologie und Kompetenzen. Das gelte auch für Beschaffung und Entwicklung.