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Berlin, 18. Mai 2020 – Vizepräsident des Wirtschaftsforums der SPD e.V. Matthias Machnig hat mit vorwärts über das Diskussionspapier „Wege in den Neustart – Weichen für die Zukunft stellen“ des Wirtschaftsforums gesprochen, das in Zusammenarbeit mit dessen Wissenschaftlichem Beirat entstanden ist. Wie die Wirtschaft nach der Corona-Krise reaktiviert werden kann und warum neue Schulden notwendig sind sind nur einige Punkte des Papiers, das eine zielgerichtete und breit geführte Diskussion über notwenige Maßnahmen einleiten soll.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat schon zu Beginn der Coronakrise in Deutschland Mitte März die „Bazooka“ ausgepackt und den Unternehmen unbegrenzte Kredite zugesagt. War das ein richtiger Schritt?

Ja, diese Zusage ist richtig und notwendig. Es musste schnell gehandelt werden, um den Unternehmen möglichst unbürokratisch zu helfen. Das hat zu einer ersten Stabilisierung beigetragen. Diese Stabilisierungsmaßnahmen sind allerdings noch keine Antwort, wie wir Wachstum und Beschäftigung stärken sowie Investitionen in die Transformation und die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg bringen. Das muss jetzt geschehen. Die Unternehmen und die Beschäftigten brauchen schnell Klarheit. Dazu brauchen wir einen zusätzlichen starken ökonomischen Impuls durch ein Konjunktur-, Investitions- und Transformationsprogramm in Höhe von vier bis fünf Prozent des BIP.

Mitte März war der DAX eingebrochen und es drohten Massenentlassungen. Wie ist die Stimmung in der Wirtschaft heute, zwei Monate später?

Unternehmen, Märkte und auch die Beschäftigten sind verunsichert. Erste Schritte in eine neue Normalität durch Lockerung der Corona-Maßnahmen sind jetzt eingeleitet. Die wirtschaftlichen Einbrüche werden erheblich sein in der Weltwirtschaft, in Europa und auch in Deutschland. Die Weltwirtschaft wird nach Prognosen des IWF um drei bis vier Prozent, um neun Billionen Euro schrumpfen, in der EU wird das Wirtschaftswachstum um 7,7 Prozent zurückgehen und das Bundeswirtschaftsministerium geht für Deutschland von einem Wachstumseinbruch von sechs bis sieben Prozent aus. Das ist die tiefste ökonomische Krise seit Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Es geht jetzt um die Sicherung der ökonomischen Substanz und damit die Sicherung der Beschäftigung in Europa und in Deutschland. Die Unternehmen brauchen jetzt schnell Klarheit sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, welche weitergehenden Maßnahmen auf den Weg gebracht werden.

Das SPD-Wirtschaftsforum hat deshalb ein Diskussionspapier „Wege in den Neustart – Weichen für die Zukunft stellen“ vorgelegt. Sie fordern darin ein „Konjunktur-, Investitions- und Transformationsprogramm“ in Höhe von 140 bis 170 Milliarden Euro aufzulegen. Wohin soll das Geld fließen?

Wir wollen einen Dreiklang aus der Sicherung von Beschäftigung und Nachfrage, der Stärkung von öffentlichen und privaten Investitionen sowie dem Voranbringen der Transformation unserer Volkswirtschaft in den Bereichen Dekarbonisierung und Klimawandel, Digitalisierung und Elektrifizierung. Unabhängig von Corona wird in den kommenden zehn Jahren durch Digitalisierung und Dekarbonisierung ein tiefgreifender Strukturwandel stattfinden, mit dem Wirtschaft, Unternehmen und Beschäftigte konfrontiert sind. Entscheidend ist, dass die Balance dieser drei Elemente stimmt. Wir müssen deshalb raus aus der Einzelfall-Logik, also Einzelmaßnahmen für einzelne Branchen, hin zu einer ökonomischen Gesamtstrategie. Es darf zu keinem Windhund-Prinzip kommen, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ oder dass sich besonders starke Lobbyinteressen durchsetzen. Das wäre ökonomisch und politisch ein falsches Signal. Notwendig sind auch Maßnahmen für Kommunen, weil sie absehbar massiv an Gewerbesteuereinnahmen verlieren werden und gleichzeitig einen großen Teil der Aufgaben schultern müssen. An einem kommunalen Rettungsschirm führt deshalb aus meiner Sicht kein Weg vorbei.

Woher soll das Geld kommen?

Das kann im Moment nur über eine zusätzliche Kreditaufnahme erfolgen. Die Schuldenbremse ist ja aus guten Gründen von der Bundesregierung und dem Parlament ausgesetzt worden. Allen sollte jetzt klar sein, dass Nichthandeln teurer wird als Handeln. Was jetzt an ökonomischer Substanz und damit auch an Beschäftigung und in der Folge an Steuereinnahmen verloren geht, wird deutlich höhere Kosten verursachen als ein kluges Investitionspaket, das rechtzeitig gegensteuert.

Die viel beschworene „schwarze Null“ wäre damit auf absehbare Zeit Geschichte.

Die Bundesregierung hat sie aus guten Gründen mit ihrem ersten Nachtragshaushalt ja de facto schon außer Kraft gesetzt und das halte ich in der derzeitigen Situation auch für richtig. Wir können nicht in die Krise hinein sparen. Die beste Antwort auf reduzierte Staatseinnahmen ist die Ankurblung von Wachstum und die Sicherung von Beschäftigten. Das haben die letzten zehn sehr erfolgreichen ökonomischen Jahre für Deutschland deutlich gemacht. Es muss jetzt alles unternommen werden, um wieder auf einen Wachstums- und Beschäftigungspfad zurückzukehren.

Die Automobilbranche ist bereits vorgeprescht und hat Kaufprämien gefordert. Wie stehen Sie dazu?

Der Debatte über ein Konjunkturprogramm hat sie damit einen Bärendienst erwiesen. Die Automobilindustrie hat in den vergangenen Jahren Milliarden-Gewinne gemacht. Dass ausgerechnet sie die erste ist, die nach einer neuen Prämie ruft, obwohl es die mir der Unterstützung beim Kauf von E-Autos ja bereits gibt, finde ich schon bemerkenswert. Das Konzept der Bundesregierung muss dem von mir angedeuteten Dreiklang von Nachfragesicherung, der Stärkung von privaten und öffentlichen Investitionen sowie Initiativen zur Transformation ihrer Wirtschaft in den Mittelpunkt rücken. Diese Balance ist entscheidend und in diesem Licht muss dann über Maßnahmen für Branchen entschieden werden

Sie fordern nicht nur direkte Investitionen in die Wirtschaft, sondern auch eine Anhebung der Leistungen der Grundsicherung um 150 Euro. Warum ist das wirtschaftlich sinnvoll?

Ohne einen leistungsfähigen Sozialstaat wären wir bisher nicht so gut durch die Krise gekommen. Er ist ein wichtiger Rettungsschirm. Dazu muss man sich nur die Situation in den USA ansehen, wo die Arbeitslosigkeit rapide gestiegen ist, ohne dass es ein soziales Sicherungssystem gibt. Der Sozialstaat ist zentral für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Einkommensschwache Familien sind in der Coronakrise besonders stark belastet. Deshalb sollten wir sie auch besonders unterstützen. Bei diesen Familien geht zusätzliches Einkommen unmittelbar in den Konsum und damit in die Nachfrage.

Außerdem soll es einen „Rettungsschirm für Neueinstellungen“ geben. Wie soll der aussehen?

720.000 Unternehmen in Deutschland haben bereits Kurzarbeit angemeldet. Wenn sie die alle in Anspruch nehmen, sind zehn Millionen Beschäftigte betroffen. Es drohen auch Arbeitsplatzverluste. Laut ifo-Institut wollen 20 Prozent der Unternehmen ihre Beschäftigtenzahl wegen Corona zu reduzieren. Deshalb müssen wir möglichst schnell wieder auf den Weg von Neueinstellungen kommen. Eine befristete Übernahme der Sozialbeiträge bzw. ein Aussetzen der Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber könnte dabei helfen. Zudem müssen auch Anreize geschaffen werden, dass Beschäftigte weiter qualifiziert werden. Und wir müssen Menschen, die in Kurzarbeit sind, die Chance zur Weiterbildung geben.

In der kommenden Woche will die EU-Kommission ihr Wiederaufbauprogramm für die europäische Wirtschaft vorlegen. Welche Akzente erhoffen Sie sich da?

In der Coronakrise ist es zu einer Entsolidarisierung und zum Teil auch einer Re-Nationalisierung innerhalb der EU gekommen. Dieser Trend muss aus politischen und ökonomischen dringend gestoppt werden! Europa muss jetzt zeigen, dass es einen Mehrwert hat und wir nur europäisch koordiniert aus dieser Krise herauskommen. Das europäische Wiederaufbauprogramm wird deshalb eine besondere Bedeutung haben. Dafür muss die EU-Kommission auch in die Lage versetzt werden, neue Kredite aufzunehmen, die von den Mitgliedsstaaten anteilig abgesichert werden. Daraus müssen den Ländern für die Wirtschaft Mittel zur Verfügung gestellt werden – und zwar nicht nur als Kredite, sondern auch als direkte Zuschüsse. Gerade für Deutschland wäre das ganz entscheidend, denn 60 Prozent unserer Exporte gehen bisher in die Europäische Union. Wir sind darauf angewiesen, dass Europa ökonomisch wieder auf die Beine kommt.

Das hieße dann also auch die Einführung von Coronabonds?

Diese Debatte, die seit einigen Wochen wieder geführt wird, halte ich für nicht sehr zielführend. Die Einführung von Corona- oder Eurobonds würde zu lange dauern und hätte auch rechtlich einige Risiken. Ein ähnlicher Mechanismus wie er bereits beim ESM etabliert ist, kann schneller vereinbart und umgesetzt werden. Wir brauchen jetzt schnelle Entscheidungen und schnelle Hilfen.

Wenn Sie eine Prognose wagen: Kann die deutsche Wirtschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgehen?

Ich möchte mir nicht den Begriff von der Krise als Chance zu eigen machen. Dafür ist die Situation zu existenzbedrohend. Aber wenn man es jetzt geschickt angeht, können entscheidende Weichen richtig gestellt werden. Die Maßnahmen müssen mehr und anders sein als bisherige Konjunkturprogramme. Ein business as usual und das Recycling von den immer gleichen Vorschlägen wird nicht ausreichen.

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