• Nach dem BVerfG-Urteil: Maßnahmen für eine zukunftsfähige Wirtschaft

30.11.2023

Mit der Ankündigung des Nachtragshaushalts für 2023 hat Bundesfinanzminister Christian Lindner de facto die Schuldenbremse für das Jahr ausgesetzt. Dies ist ein richtiger und wichtiger Schritt in der Antwort auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Jetzt müssen weitere Schritte folgen, um eine strukturell geschwächte Wirtschaft kurzfristig zu stabilisieren und langfristig zu stärken.

Als im Februar 2022 die Zeitenwende ausgerufen wurde, betraf dies nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern in erheblichem Maße auch die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Nach jahrzehntelangen Unterinvestitionen, einem alternden Kapitalstock und bröckelnder Infrastruktur traf uns die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöste Energiekrise und Inflation viel härter als nötig. Und obwohl die möglichen Schäden durch entschlossenes, politisches Eingreifen verhindert wurden, zeigt sich derzeit, dass die Wirtschaft sich aufgrund der strukturellen Schwächen der Infrastruktur, einer binnen- und außenwirtschaftlichen Nachfrageschwäche und der fehlenden Planbarkeit für langfristige Investitionen eben nicht erholt. Seit 2019 ist die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) flach wie ein Brett. Zugleich müssen in den 20er Jahren die Weichen gestellt werden für die Transformation der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität. Deutschland hat sich im Pariser Klimaschutzabkommen völkerrechtlich verpflichtet, zum 2-Grad-Ziel beizutragen und einen entsprechenden Pfad zu beschreiten. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zur Klimapolitik auch nachdrücklich klargestellt. Der Bundestag hat daraufhin das Klimaschutzgesetz nachgebessert und einen Pfad der Klimaneutralität bis 2045 als verpflichtende Vorgabe beschlossen.

Aufgrund der gewaltigen Herausforderungen ist es unabdingbar, dass wir nun eine öffentliche Investitionsoffensive in Gang setzen, die sich über anderthalb bis zwei Jahrzehnte erstrecken und mit dieser Dynamik zusätzlich privates Kapital hebeln wird. Den Startpunkt wollte die Bundesregierung unter anderem durch die Überführung coronabedingter Notfallkredite in einen Klima- und Transformationsfonds (KTF) setzen. Diesem Vorhaben wurde nun mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ein Riegel vorgeschoben. Betroffen sind 60 Mrd. Euro und alle investiven Maßnahmen des §2a des Klima- und Transformationsfondsgesetzes (KTFG), namentlich die Förderung von Investitionen „der Energieeffizienz und erneuerbarer Energien im Gebäudebereich“, „für eine kohlendioxidneutrale Mobilität“, „in neue Produktionsanlagen in Industriebranchen mit emissionsintensiven Prozessen über Klimaschutzverträge“, „zum Ausbau einer Infrastruktur einer kohlendioxidneutralen Energieversorgung“ und die Abschaffung der EEG-Umlage.“

Diese Finanzierungsmöglichkeiten entfallen damit; die Notwendigkeit der geplanten Investitionen und Zuschüsse hingegen bleibt bestehen. Gleichzeitig wachsen die Unsicherheiten. Denn Ankündigungen stehen im Raum, auch andere Sondervermögen anzugreifen. Diese zusätzliche Unsicherheit, die das Urteil in der Wirtschaft, bei den Unternehmen und in der Zivilgesellschaft auslöst, bedroht wichtige Investitionsvorhaben in Deutschland, denn die Verlässlichkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland und der Zuverlässigkeit deutscher Politik könnten fundamental beschädigt werden. Es muss daher zeitnah eine effektive und nachhaltige Lösung aus dem fiskalpolitischen Impasse gefunden werden. Die derzeitigen Ausgabenposten der öffentlichen Budgets werden dabei auf möglichst hohe Wirksamkeit überprüft werden müssen.

Fest steht, dass eine derart umfangreiche Transformation, wie sie zur sozialverträglichen Klimaneutralität 2045 benötigt wird, niemals aus den laufenden Einnahmen wird finanziert werden können. Allein der zusätzliche Investitionsbedarf, der zur Einhaltung der Klimaziele benötigt wird, wird derzeit für die EU-Staaten auf zwischen 2 und 6 Prozent des BIP taxiert – wovon ein wesentlicher Teil auf öffentliche Investitionen entfällt. Würde man die Mittel dafür zunächst durch Steuern generieren wollen, würde die derzeit ohnehin schwächelnde Wirtschaft vollends abgewürgt werden, was sämtliche Klimaambitionen zunichtemachen dürfte. Der Weg zur Klimaneutralität geht nämlich nur über gute Jobs, hohe Produktivitätszuwächse und Vollbeschäftigung – alles andere wird die Transformation zum Scheitern bringen.

Die Gemengelage zeigt, dass sich die Investitionsvolumina zur Transformation nur über die Aufnahme von zusätzlichem Kapital stemmen lassen werden. Um die Verunsicherung in der Wirtschaft zu reduzieren und die Finanzierung der Investitionsprojekte zu garantieren, sollte kurzfristig die Notfallregelung zur Aussetzung der Schuldenbremse gezogen werden. Der Bundesfinanzminister hat es für das Jahr 2023 bereits de facto getan, dieselbe Maßnahme für das Jahr 2024 muss möglichst schnell folgen, wenngleich hierbei eine besonders hohe Sorgfaltspflicht besteht, um die Verfassungskonformität zu wahren.

Reform der Schuldenbremse 
Die schwächelnde Wirtschaft und der Druck zum sofortigen Handeln, wenn die Klimaneutralität 2045 erreicht werden soll, rechtfertigen eine solche Entscheidung. Ohne die effektive Weichenstellung noch in dieser Legislatur werden die Ziele kaum zu erfüllen sein. Doch neben diesen kurzfristigen Notfallmaßnahmen braucht es mittelfristig eine Reform der Schuldenbremse, sodass sie staatliche Investitionen nicht abwürgt. Gerade da Investitionen erst mit einiger Verzögerung wirken, setzt ein zu rigides, fiskalisches Korsett perfide Anreize, um bei Investitionen zu sparen und kurzfristige Konsumausgaben zu schonen. Die Schuldenbremse ist in dieser Form nicht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemacht. Für die mittelfristige Umgestaltung zur Erhöhung des investiven, fiskalischen Spielraumes für den Staat gibt es verschiedene Optionen: flexiblere Gestaltung einer Ausgabenregel, Ausnahme zur Anrechnung von Investitionen zur Klimaneutralität, Schaffung rechtlicher Selbstständigkeit für zweckgebundene Fonds oder eine Reform der Konjunkturkomponente, für die es lediglich eine einfache Mehrheit im Parlament braucht. Auch eine Mischung der verschiedenen Instrumente wäre denkbar.

Bund-Länder-Dialog, Transformationsgipfel und Expertenkommission
Die Diskussion der vergangenen Tage zeigt aber auch, dass wir große politische Sorgfalt im Umgang mit der entstandenen Situation und den Erfordernissen, die Investitionstätigkeiten am Laufen zu halten, an den Tag legen müssen. Bei den teilweise im Raum stehenden Investitionssummen muss für die Menschen in diesem Land klar sein, dass diese Schritte nicht in tagespolitischem Streit, sondern aus einer Verantwortung für das Land und den Wohlstandsmotor Wirtschaft erfolgt. Darum fordern wir:

Die Betrachtung der Auswirkungen des Karlsruher Urteils nicht nur aus haushälterischer Sicht, sondern auch mit Blick auf Konjunktur, Transformation und Standortentwicklung. Die Sicherstellung kurzfristiger Finanzierungsbedarfe ist damit durch das Aussetzen der Schuldenbremse auch für 2024 dringend erforderlich.

  • Zur mittel- und längerfristigen Sicherstellung der Finanzierung der Transformation fordern wir neben der Reform der Schuldenbremse einen baldigen Bund-Länder-Dialog zur
  • Vorbereitung eines Transformationsgipfels aus Regierung und demokratischer Opposition sowie
  • die Einrichtung einer Expertenkommission, zu der die Tarifparteien (Arbeitgeber und Gewerkschaften) und die Wissenschaft eingeladen werden, um den Investitionsbedarf zu definieren und die genaue Ausgestaltung der Instrumente auszuarbeiten, wie unter anderem beispielsweise die Schaffung einer Infrastrukturgesellschaft. 

Gemeinsam mit einer Reform der bestehenden Schuldenbremse, die mehr Flexibilität sowohl auf Länder- wie auch auf Bundesebene ermöglichen würde, sollten alle Beteiligten auf die Schaffung der Grundlagen hinarbeiten, um das durch das Verfassungsgericht vorgegebene Ziel der Klimaneutralität 2045 zu erreichen. Kurzfristig steht es dabei außer Frage, dass die zu tätigenden Ausgaben nicht durch Einsparungen konterkariert werden können, da dies eine schwächelnde Wirtschaft substanziell belasten und die Krise weiter verschärfen würde.