15.07.2022

Während große Teile der Welt unter einer zunehmenden Ernährungskrise leiden, ist die Verschwendung von Lebensmitteln in vielen westlichen Ländern Alltag. Wie sich Lebensmittelverschwendung in Deutschland reduzieren lässt, war Thema einer Digitalkonferenz des SPD-Wirtschaftsforums am Mittwochabend. Die Ergebnisse der Diskussion greift ein heute veröffentlichtes Positionspapier auf. Es präsentiert mögliche Strategien und rechtliche Rahmenbedingungen für den Abverkauf und die Abgabe von Lebensmitteln sowie bessere Kooperationsmöglichkeiten.

Elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle fallen in Deutschland jedes Jahr an, der Großteil davon entsteht mit rund 60 Prozent in privaten Haushalten. Jede Verbraucherin, jeder Verbraucher wirft demnach etwa 80 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr weg. Gerade angesichts der sich verschärfenden Hungersnöte weltweit ist dies ein enormes moralisch-ethisches Problem.  Es stellt Politik und Gesellschaft vor die Aufgabe, einen bedarfsgerechten und ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette zu finden.

Im Gespräch mit Matthias Machnig, Vizepräsident des Wirtschaftsforums, diskutierten Eva Bell, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Jochen Brühl, Vorsitzender Tafel Deutschland e.V., und Rita Hagl-Kehl, MdB und Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, sowie Dr. Thomas Schmidt, Institut Marktanalyse, Thünen-Institut, welcher Rahmenbedingungen es bedarf, um die Verschwendung von Lebensmitteln im Handel weitestgehend zu reduzieren.

Die Reduktion von Lebensmittelverschwendung sei, so die einhellige Meinung der Runde, eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die voranzubringen gemeinsames Ziel sein müsse mit Blick auf eine nachhaltigere Lebensmittelproduktion und nachhaltigen Konsum. „Klar ist: Die Reduktion von Lebensmittelverschwendung wird nur gelingen, wenn alle Akteurinnen und Akteure entlang der Lebensmittelversorgungskette, Politik und Verbraucherinnen und Verbraucher gemeinsam auf dieses Ziel hinarbeiten“, so Matthias Machnig. Es bedürfe daher eines Zusammenspiels aus der Überprüfung und Optimierung rechtlicher Rahmenbedingungen, damit es Unternehmen der Branche möglich ist, das Potenzial von Abverkauf und Abgabe von Lebensmitteln bestmöglich und rechtssicher umzusetzen.

Weiterhin müsse eine Ernährungsstrategie das Thema Lebensmittelwertschätzung ganz oben auf die Agenda setzen. Schließlich sollten angesichts der Bandbreite bereits bestehender Unternehmensinitiativen und Kooperationen mit karitativen wie nicht karitativen Organisationen Instrumente etabliert werden, um diese Kooperationen zu intensivieren und auf den bereits vorhandenen Strukturen aufzusetzen. Eine institutionelle Förderung der Tafeln in Höhe von zehn Millionen Euro sollte für den Haushalt 2023 auf den Weg gebracht werden.

Rita Hagl-Kehl nahm die ganze Wertschöpfungskette in den Blick und forderte: „Wir brauchen Reduktionsziele für jede Stufe der Wertschöpfungskette – vom Feld bis zum Teller!“ Denn Lebensmittelverschwendung sei eine dramatische Ressourcenvergeudung mit weltweiten negativen sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen.

Auf die Rolle der Tafeln in Deutschland, die angesichts von Krieg und Flucht unter immer größerem Druck stehen, ging Jochen Brühl ein. „Auf der Welt verhungern Menschen, und es ist fast nicht erträglich zu sehen, was in Deutschland weggeworfen wird. Unsere ca. 60.000 Lebensmittelretterinnen und -retter sichern 500 kg Lebensmittel pro Minute. Das Potenzial wäre doppelt so hoch, aber die Tafeln sind am Limit und darüber hinaus“, sagte der Vorsitzende der Tafel Deutschland e.V. Er verwies darauf, dass hier Aufgaben wahrgenommen würden, für die die gesamte Gesellschaft in der Verantwortung stehe. Brühl plädierte für eine institutionelle Förderung, mit der sich die Logistik und Wirkung der Organisation deutlich verbessern ließen. Auch solle das Thema Mindesthaltbarkeitsdatum endlich ernsthaft diskutiert werden.

Stefan Giffeler, Leiter des Fachforums Handel und Konsumgüter, betonte die besonderen Leistungen der Tafel: „Die Tafeln bzw. gemeinnützigen Organisationen brauchen mehr Ressourcen, eine belastbare Logistik und Infrastruktur, kurzum: eine stärkere institutionelle Förderung, vor allem im ländlichen Raum. So kann die Reduktion von Lebensmittelverschwendung unterstützt werden.“

Die Forderung des Fachforums Handel und Konsumgüter nach einer institutionellen Förderung adressiert auch das Positionspapier. Darin wird für eine dauerhaft im Haushalt angelegte, jährliche institutionelle Förderung der Tafel Deutschland e.V. mit zehn Millionen Euro plädiert. Darüber hinaus solle die Förderung vergleichbarer gemeinnütziger Organisationen geprüft werden.

Über mögliche Anreize zur Verhaltensänderung sprach Dr. Thomas Schmidt vom Johann Heinrich von Thünen-Institut. Monetäre Faktoren könnten dabei ebenso wie „Nudging“ eine Rolle spielen. Auch steuerrechtliche Änderungen bei der Mehrwertsteuer seien denkbar. Er wies aber auch auf große Informations- und Wissensdefizite beim Thema Lebensmittelverschwendung hin, auf die mit Aufklärung sowie Aus- und Weiterbildung reagiert werden müsse.

Das Positionspapier „Strategien und Herausforderungen bei der Reduktion von Lebensmittelverschwendung“ des Fachforums Handel und Konsumgüter im SPD-Wirtschaftsforum nennt als zentrale Stellschrauben für eine erfolgreiche Reduktion von Lebensmittelverschwendung den Abbau von Hemmnissen beim Abverkauf wie der Abgabe von Lebensmitteln, die Vermeidung neuer bürokratischer Hürden und die Intensivierung von Kooperationen im Bereich der Lebensmittelspenden. Das Papier wird mitgetragen vom Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels e.V. (BVLH) und ist hier abrufbar.