Als führender Standort für die Energiewende gilt der Norden Deutschlands schon heute. Angesichts der veränderten Lage in Europa steigt der Druck, die Entwicklung hin zu mehr Energiesouveränität zu forcieren. Wie sich diese energie- und industriepolitische Zeitenwende in Schleswig-Holstein und der Metropolregion Hamburg gestalten lässt, diskutierten Hamburgs Erster Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher und Thomas Losse-Müller, SPD-Spitzendkandidat für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein, beim Regionalen Unternehmerdialog am Mittwoch in Norderstedt. Beide plädierten für ein „Joint Venture“ zwischen Staat und Wirtschaft, um die Wirtschaftlichkeitslücke hin zur Dekarbonisierung der Industrie zu schließen.

In seinem Impuls ging Hamburgs Erster Bürgermeister, Dr. Peter Tschentscher, auf die große Bedeutung der Industrie für den Standort Norddeutschland ein: „Wir brauchen die Industrie. Und die Industrie braucht die Transformation hin zur Dekarbonisierung. Wir erkennen jetzt, wie abhängig wir von funktionierenden Lieferketten sind. Deshalb müssen wir diversifizieren, um die Risiken zu streuen. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Industrie und Deutschland insgesamt unabhängig werden, ist ein starker Hafen, der uns erlaubt, flexibel zu sein und der zu unserer Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt beiträgt.“

Thomas Losse-Müller skizzierte die Chancen Schleswig-Holsteins als Energie- und Industriestandort. Da die Sicherstellung der Energieversorgung in Deutschland jetzt höchste Priorität habe, komme Schleswig-Holstein und Norddeutschland insgesamt eine entscheidende Rolle bei der Energieerzeugung und dem -transport zu: „Schleswig-Holstein ist der Ort, wo man am günstigsten Energie bekommt. Wir müssen Resilienz schaffen in der Lieferkette mit dem Ziel einer eigenen wirtschaftlichen Souveränität.“ Neben dem Ausbau der Erneuerbaren Energien, der weiter mit Hochdruck betrieben werden müsse, gelte es, Brunsbüttel zügig als wasserstoffkompatibles Flüssigerdgas- (LNG) und Ammoniakterminal auszubauen.

Mit Blick auf den Energiesektor betonte Losse-Müller die Möglichkeiten für eine engere Kooperation mit der Metropolregion Hamburg. Schleswig-Holstein sei ideal positioniert zwischen der Dienstleistungsmetropole Hamburg und dem stark industriell geprägten Süden Dänemarks, um als Zentrum einer neuen „Energie-Hanse“ zu fungieren und beispielsweise regionale Partnerschaften für Wasserstoffproduktion zu etablieren. Grüner Wasserstoff müsse vor allem dort ausgebaut werden, wo die Industrie besonders großen Bedarf an Wärmemengen habe. Insbesondere die große Menge an erneuerbaren Energien zur Erzeugung von grünem Wasserstoff und die damit verbundene große Menge an Wärme sowie optimalen Speicherbedingungen in den Salzkavernen machten den Standort Schleswig-Holstein besonders attraktiv. Losse-Müller verwies dabei auf sein industriepolitisches Strategiepapier.

Heiko Kretschmer, Schatzmeister des SPD-Wirtschaftsforums, ging auf die dringend erforderliche Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ein. Hierfür müssten die gesetzlichen Anforderungen überarbeitet werden, denn neben der Beschleunigung gelte es, angemessen mit anderen öffentlichen Interessen, wie dem Artenschutz, umzugehen. Hier komme der Digitalisierung der Verwaltungsprozesse eine zentrale Rolle zu.

Im anschließenden Panel diskutierten Tschentscher und Losse-Müller mit Prof. Dr. Frauke Wiese, Juniorprofessorin, Transformation der Energiesysteme, Europa-Universität Flensburg, Ove Petersen, Vorstandsvorsitzender, watt 2.0 e.V., und Marcus Hrach, Geschäftsführer des Landesverbands Erneuerbare Energien Schleswig-Holstein e.V., über Energieprodukte, die künftig entscheidend für die Region seien. Die Chancen der Wasserstofftechnologien und die Standortstärken des Nordens wurden ebenso diskutiert wie die Notwendigkeit von Effizienz in allen Energieformen, Dezentralisierung und der Ausbau der E-Ladeinfrastruktur.

Neben Energieprodukten der Zukunft widmete sich die Diskussion den Themen Kreislaufwirtschaft und Strukturwandel. Der effiziente Ressourceneinsatz mache es erforderlich, bestehende Wertschöpfungsketten zu einer Kreislaufwirtschaft umzugestalten, in der die Neben- und Abfallprodukte eines Unternehmens Ausgangsstoffe für ein anderes sind. Delara Burkhardt, MdEP, SPD-Fraktion, Jürgen Wollschläger, Geschäftsführer der Raffinerie Heide GmbH, und Sven Kohnke, Yara Brunsbüttel GmbH, diskutierten das große Potenzial neuer Arbeitsplätze dank der Kreislauffähigkeit der Industrie. Die Unternehmer sprachen sich zudem für einen industriepolitischen Koordinator in Schleswig-Holstein aus.

Im Panel „Strukturwandel und Arbeitsmarkt“ schließlich forderten Hansjörg Lüttke, Geschäftsführer, UV Nord, Serpil Midyatli, Vorsitzende der schleswig-holsteinischen SPD, und Andreas Suß, Bezirksleiter der IG BCE Schleswig-Holstein, eine Aus- und Weiterbildungsoffensive zur Qualifizierung der dringend benötigten Fachkräfte. Nur mit diesen ließen sich die Chancen der industriepolitischen Zeitenwende nutzen. Daneben gelte es aber auch, das Bundesland attraktiv für Fachkräfte zu machen, etwa mit einer entsprechend guten sozialen Infrastruktur für Familien.