02.07.2024

Fachkräftebedarf sichern: Maßnahmen der Arbeitsagentur, Erfahrungen von Unternehmen

Wie Unternehmen dringend benötigte Fachkräfte gewinnen können und wie die Agenturen für Arbeit bei der Sicherung des Fachkräftebedarfs helfen kann, waren die Themen einer Digitalkonferenz des Fachforums Arbeitswelt, Tarifpartnerschaft und Integration. Sowohl Angebote der Arbeitsagentur als auch unternehmerische Strategien zur Gewinnung und zur Bindung von Fachkräften wurden dargestellt, aber auch auf weiterhin bestehende politische und gesellschaftliche Defizite hingewiesen.

In ihrem Eröffnungsstatement nannte Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, die Zahl von rund sieben Millionen Fachkräften, die dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge bis 2035 dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen könnten. Diese Lücke kann nur durch eine Kombination aus Ausbildung, Qualifizierung, Steigerung der inländischen Erwerbsbeteiligung, Fachkräfteeinwanderung und sozialverantwortlicher Automatisierung geschlossen werden. Sie nahm zuerst das inländische Potenzial in den Blick und konstatierte einen sich verschärfenden Trend bei der wachsenden Zahl von Schulabgängern/innen ohne Abschluss. Diese Zahl habe 2022 bei 52.000 gelegen. Dies werde absehbar die Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit dieser Personengruppe erhöhen. Dagegen stellte sie an positiver Entwicklung heraus, dass die Zahl der Bewerber/innen für eine duale Ausbildung gestiegen sei. Auch sei der Kontakt zu jungen Menschen nach dem Einbruch durch Corona wieder gewachsen.

Beschäftigungspotenziale heben
Als wenig zufriedenstellend bezeichnete Nahles die Zahlen zur Vollzeitbeschäftigung von Frauen. Vor allem mangelnde Kinderbetreuungsangebote erschwerten vielen Frauen den Weg in die Vollbeschäftigung, ein aus Nahles‘ Sicht dringend zu behebender Missstand, da hier enorme Beschäftigungspotenziale lägen. Das gelte auch für migrantische Frauen, deren Teilhabe am Arbeitsmarkt neben geringen Betreuungsangeboten auch aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse erschwert werde. Bei der freiwilligen Längerarbeit von Älteren sieht Nahles eine positive Entwicklung, auch wenn das Beschäftigungspotenzial Älterer längst nicht ausgeschöpft sei. In den Regionen, in denen Unternehmen im Zuge der Transformationsbewältigung Menschen freisetzen müssen, während andere Unternehmen händeringend Fachkräfte suchen, werde versucht, Menschen Job-To-Job über Arbeitsmarktdrehscheiben zu vermitteln. Generell konstatiere die BA-Vorsitzende zunehmende Passungsprobleme. Es gebe einen strukturellen „Qualifikationsgap“ zwischen Arbeitssuchenden und offenen Stellen. In den vergangenen Monaten erfolgte der Beschäftigungszuwachs nur noch durch Menschen ohne deutschen Pass.

Herausforderung Transformation
Sabine Kohleisen, Vorstandsmitglied der Mercedes-Benz Group AG. Personal und Arbeitsdirektorin, ging auf die Ausbildungssituation in ihrem Unternehmen ein. Noch gebe es keine Probleme, die Ausbildungsplätze zu füllen. Festzustellen sei aber auch bei ihnen, dass die Schulabsolvent/innen ein geringeres Bildungsiveau mitbrächten und die Auswahl an Bewerberinnen und Bewerbern sinkt, die den Anforderungen für eine erfolgreiche Ausbildung gerecht werden. Auch ergebe sich für die Ausbildenden ein erhöhter Betreuungsbedarf bei Sozialkompetenzen, wie Pünktlichkeit und auch der Lernkompetenz. Ausbildung müsse insgesamt wieder attraktiver gemacht und der Wert der Ausbildung sehr viel mehr in den Fokus gerückt werden. Seitens der Politik sollte über attraktive Ausbildungsvergütungen nachgedacht oder auch steuerliche Anreize gesetzt werden. Mit Blick auf das Beschäftigungspotenzial von Frauen bemängelte auch sie die zu geringen Kinderbetreuungsangebote.

Die Mercedes-Benz Group werde über die Zeit manche Job-Profile nicht mehr in der Quantität benötigen, wie es heute noch der Fall ist. Das Bestreben von Mercedes als Mitglied der Allianz der Chancen sei es, diesen Wandel sozialverträglich zu bewältigen. Ziel sei es, gemeinsam, etwa auch zusammen mit der Agentur für Arbeit, eine Drehscheibe aufzusetzen, um nicht mehr benötigte Profile an andere Unternehmen weiterzugeben. In diesem Kontext schlägt Kohleisen die Idee einer Qualifizierungszeit bzw. eines Orientierungspraktikums vor, um den Wechsel zu einer neuen Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber zu erleichtern, was gesetzlich jedoch schwierig sei. Hier müssten wir es hinbekommen, Experimentierräume zu schaffen, um neue Bereiche kennenlernen und ausprobieren zu können.

Neben einem guten Zusammenspiel von Unternehmen und der Bundesagentur brauche es ebenso das Mindset, die Eigenverantwortung und den Willen der Menschen, sich auf einen neuen Arbeitgeber einzulassen.

Fachkräfteentwicklung lange absehbar
Die Vorsitzende des Konzernbetriebsrats der Deutsche Telekom AG, Kerstin Marx, fragte kritisch nach der Verantwortung von Unternehmen und Politik angesichts des sich bereits seit vielen Jahren abzeichnenden Fachkräftemangels, vor allem im IT-Sektor. Sie vermisse Kooperationen der DAX-Unternehmen mit Hochschulen, um den Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen. Auch sprach sie die Transformation der Arbeitswelt und den Einsatz selbstlernender Systeme an. Die Beschäftigten würden sich bereits seit vielen Jahrzehnten aus intrinsischer Motivation transformieren, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Bislang sei es für die Beschäftigten jedoch schwierig abschätzen und nachvollziehen zu können, was der Einsatz selbstlernender Systeme für sie als Beschäftigte bedeute.

Marx verwies zudem auf die Anpassung der Telekom AG an veränderte Voraussetzungen bei der Ausbildung. Das Unternehmen habe das Recruiting-System so geändert, dass mit den BewerberInnen ein Beratungsgespräch geführt und die Bandbreite der jeweils in Frage kommenden Ausbildungsberufe vorgestellt werde. Für Schulabbrecher wiederum biete man eine Einstiegsqualifizierung an, die es den jungen Menschen ermögliche, ein Jahr lang Erfahrungen im Unternehmen zu sammeln.

Ausländische Fachkräfte: Deutschland nur bedingt attraktiv
Auf die Frage von Moderator Heiko Kretschmer, Schatzmeister des SPD-Wirtschaftsforums, ob Deutschland für internationale Fachkräfte nicht eher ein „Rückwanderungsland“ statt ein attraktives Zuwanderungsland ist, antwortete Andrea Nahles mit Verweis auf die Ergebnisse einer Umfrage unter ausländischen Fachkräften. Diese monierten insbesondere die Länge der Anerkennungsverfahren in Deutschland, die Tatsache, dass die Fachkräfte zu oft unterhalb der eigentlichen Qualifikationsstufe beschäftigt würden und zudem die Schwierigkeiten beim Familiennachzug. Sie konstatierte abschließend, dass noch nicht genug erreicht worden sei, um die demographischen Lücken schließen zu können.